Die Gutachterschlacht um die Risikofrage beim geplanten Flughafenausbau geht weiter. Beim RP Darmstadt liegt seit drei Wochen die Kurzfassung eines neuen Gutachten des TÜV Pfalz vor, das das Absturzrisiko für die Ticona für den "Ist-Zustand" untersucht. Das Chemiewerk wird heute von 58000 startenden Flugzeugen überflogen. Das Gutachten ist noch nicht veröffentlicht und angeblich auch noch nicht fertig. Jedoch decken sich die Kernaussagen nach Aussagen eines der Gutachter mit den Ergebnissen einer bereits im März dieses Jahres angefertigten Kurz-Analyse, die der Presse vorliegt.
Nach vorläufigen Berechnungen der Gutachter ist im ungünstigsten Fall mit einem Absturz in 22500 Jahren, im günstigsten Fall mit einem Absturz in 62500 Jahren zu rechnen. Die Schwankungsbreite erklären die Gutachter mit den örtlichen Verhältnissen. Falls bei einem Absturz die neben Ticona verlaufende ICE-Trasse und die Autobahn als "Barriere" wirkten, wären die Auswirkungen auf das Werksgelände verhältnismäßig gering. Bei einem Absturz direkt auf das Werk gehen die Gutachter von einem Totalverlust des Werks aus. Nach der Einschätzung der Störfallkommission ist für diesen Fall mit mehr als 100 Toten zu rechnen.
Das Absturzrisiko für den Ist-Zustand liegt in der gleichen Größenordnung, die die Störfallkommission Anfang des Jahres für die geplante Nordwestbahn angegeben und für unakzeptabel erklärt hatte. Der TÜV Pfalz schlägt zur Lösung des Problems vor, die aktuelle Flugroute um mindestens 500m nach Süden zu verlegen. Dadurch liesse sich die Absturzwahrscheinlichkeit um den Faktor 3-5 vermindern und damit unter einen Wert von 1:100 000 bringen, der nach internationalen Maßstäben akzeptierbar wäre.
Für das Hessische Wirtschaftsministerium ist eine Verlegung der Flugroute kein Thema. Nach Aussage von Klaus-Peter Güttler könnte eine Abflugstrecke nur verlegt werden, wenn die Hindernisfreiheit für die Flugzeuge nicht gegeben ist und damit eine konkrete Gefahr bestehe. "Es wäre rechtswidrig, wenn wir eine Veränderung vornehmen und dies mit Ticona als Gefahrenquelle begründen", erklärte Güttler. Er will "die Möglichkeit der Problembehandlung mit dem Betreiber erörtern". Im Klartext: das Ministerium will in die Produktion der Ticona eingreifen. Zum Beispiel könnte man die Betriebsgenehmigung für ihre neue Produktionsanlage für den Kunststoff Hostaform verweigern, die aufgrund einer Vorabgenehmigung des RP bereits errichtet wurde und noch immer keine Betriebsgenehmigung hat.
Für die hessischen Grünen passt Güttlers Aussage zum politischen Ziel der Landesregierung, den Ausbau des Flughafens voranzutreiben. "Es ist aberwitzig, wenn die Landesregierung der Ticona jetzt die Produktion so schwer wie möglich machen will, nur um die Chancen ihrer Ausbauplanung zu erhöhen", kritisierte der Parlamentarische Geschäfsführer der Grünen im Landtag, Frank Kaufmann. Der Kelsterbacher Bürgermeister Erhard Engisch übte ebenfalls heftige Kritik an der Aussage des Ministeriums. "Die Route muss verlegt werden, und es ist mir völlig unverständlich, wieso das offensichtlich ausgeschlossen wird".
Auch in der Fluglärmkommission wird das Problem einer Verlagerung der jetzigen Flugroute zum Schutz der Ticona diskutiert. Möglich wäre eine Verschiebung des Abdrehpunktes in Richtung Raunheim, was aber in Raunheim zu höherer Lärmbelastung führen würde und daher bisher abgelehnt würde. Eine andere Möglichkeit wäre es, die Abflugroute südwestlich um Raunheim und Rüsselheim herum zu führen (jetzige TABUM-Nacht-Abflugroute). Die DFS sieht aber hier Probleme, weil diese Route mit Starts von der Startbahn West kollidieren könnte.
Die EU-Kommission muss sich ebenfalls mit der Flugroute über der Ticona beschäftigen. Die BFU Eddersheim hatte im Mai eine EU-Beschwerde wegen des Risikos durch die aktuellen Überflüge eingereicht.
Siehe auch:
- Zukünftig Überflüge über Chemiewerk Ticona stoppen!
Antrag der BFU Eddersheim und Antwort des Luftfahrtbundesamtes
Ticona Risiko Abflugroute(n) Absturz-Gefahr