Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hat mit heute verkündetem Urteil die Klage der Ticona GmbH gegen die nordwestlichen Abflugrouten vom Flughafen Frankfurt/Main abgewiesen.
Die vom Luftfahrt-Bundesamt (Verwaltungsstelle Flugsicherung) festgelegten Flugverfahren führen dazu, dass das Ticona-Werksgelände direkt oder mit geringem seitlichen Abstand überflogen wird. Mit ihrer Klage will die Ticona GmbH eine Verlegung der derzeitigen Routen unabhängig von dem Plan für den Bau einer weiteren Landebahn erreichen. Sie beruft sich dazu auf ein Gutachten des TÜV-Pfalz und auf ein Votum der Störfallkommission, wonach bereits der gegenwärtige Flugbetrieb das Risiko eines Flugzeugabsturzes auf ihr Werksgelände begründe, was mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Verlust der Anlage führen werde. Die Ticona GmbH sieht hierin einen Verstoß gegen die EU-Richtlinie zur Beherrschung der Gefahren bei schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen - sog. Seveso II-Richtlinie -, nach der ein angemessener Abstand zwischen einer Störfallanlage einerseits und einem Verkehrsweg andererseits einzuhalten ist.
Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hat sich dieser Rechtsauffassung in seinem Urteil nicht angeschlossen. Die Seveso II-Richtlinie sei auf Flugrouten nicht anwendbar, da sie keine Verkehrswege seien. Von Verkehrswegen im Sinne der Richtlinie könne nur gesprochen werden, wenn eine bestimmte oder zumindest bestimmbare Fläche für Verkehrszwecke genutzt werde. Die umgangssprachlich als Flugrouten bezeichneten Flugverfahren beschränkten sich hingegen auf Verhaltensvorschriften für Piloten und Fluglotsen. Durch Flugverfahren werde eine virtuelle Ideallinie festgelegt, von der die Piloten sowohl seitwärts als auch in der Höhe abweichen würden und auch dürften, ohne gegen Vorschriften des Luftverkehrsrechts zu verstoßen. Die nicht unerhebliche Streuung der dadurch entstehenden Flugspuren stehe einer sinnvollen Anwendung des Abstandsgebots auf Flugverfahren entgegen. Auch der Zweck der Seveso II-Richtlinie gebiete keine andere Beurteilung, weil er gerade die Nachbarschaft von Störfallanlagen, also die Bewohner benachbarter Baugebiete, die Besucher öffentlicher Gebäude und Freizeiteinrichtungen sowie die Benutzer von Straßen und Eisenbahnen vor eventuellen Störfallfolgen schützen wolle, nicht aber die Betreiber von Störfallanlagen gegenüber externen Risiken.
Aber selbst wenn die Seveso II-Richtlinie auf Flugverfahren anwendbar wäre, würden die derzeitigen Abflugverfahren vom Flughafen Frankfurt/Main nicht gegen das Abstandsgebot verstoßen. Dabei ist der Hessische Verwaltungsgerichtshof nicht näher auf die Auffassung der Ticona GmbH eingegangen, ihren Interessen an einer Minimierung des Sicherheitsrisikos müsse in jedem Fall der Vorrang vor anderen Belangen der Flugroutenplanung, insbesondere vor Lärmschutzbelangen der Bevölkerung und flugbetrieblichen Belangen eingeräumt werden. Das Problem einer solchen Güterabwägung habe sich für den Gerichtshof so nicht gestellt. Auszugehen sei vielmehr davon, dass das Risiko eines Flugzeugabsturzes über dem Ticona-Werksgelände nicht größer sei als bei den vergleichbaren Bereichen der übrigen An- und Abflugrouten vom und zum Flughafen Frankfurt/Main. Das den Rechtsstreit auslösende erhöhte Risiko ergebe sich aus den Folgen eines eventuellen Absturzes, weil auf dem Werksgelände gefährliche chemische Stoffe gelagert und verarbeitet würden. Risken dieser Art fielen aber sowohl nach der Seveso IIRichtlinie als auch nach nationalem Immissionsschutzrecht in den Verantwortungsbereich des Betreibers einer Störfallanlage, und zwar unabhängig davon, ob die Ursache für das Risiko in dem Betrieb selbst oder außerhalb des Werksgeländes liege. Auf dieser Grundlage habe das Regierungspräsidium Darmstadt als für die Sicherheit der Anlage zuständige Behörde ein Verfahren eingeleitet, das darauf abziele, die erforderlichen betrieblichen Schutzvorkehrungen zu ergreifen. Wie der Gerichtshof weiter ausführt, erweisen sich solche Maßnahmen für den Betreiber nur dann als unverhältnismäßig, wenn die streitigen Flugrouten ohne wesentliche Nachteile verlegt werden könnten. Das ist nach den Feststellungen des Gerichts hier jedoch nicht möglich. Die von der Klägerin hierzu vorgeschlagenen alternativen Routenführungen würden sich nachteilig auf die Lärmschutzbelange der Bevölkerung sowie auf die betrieblichen Belange des beigeladenen Flughafenbetreibers und der Flugsicherung auswirken.
Für den Hessischen Verwaltungsgerichtshof besteht in diesem Zusammenhang Anlass zur Klarstellung, dass nach den Erkenntnissen der zuständigen Fachbehörde auf der Grundlage der vorliegenden Gutachten nicht damit zu rechnen ist, dass ein absturzbedingter Störfall zu relevanten Auswirkungen außerhalb des Ticona-Werksgeländes führen wird, nachdem die Klägerin im Sommer 2005 das Lager für den sehr giften Stoff Bortrifluorid eingebunkert hat.
Des Weiteren hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof mit Blick auf das nationale Luftverkehrsrechtentschieden, dass entgegen der Auffassung des Luftfahrt-Bundesamtes die Belange der Betreiber von gefährlichen Anlagen nicht generell unberücksichtigt bleiben dürfen. Das Luftfahrt-Bundesamt habe jedenfalls bei Kenntnis exponierter Anlagen die erkennbaren Sicherheitsrisiken in seine luftverkehrsrechtliche Abwägung einzustellen. Dieser Anforderung sei das Luftfahrt-Bundesamt hier auch - trotz seiner gegenteiligen Rechtsauffassung - letztlich nachgekommen. Auch diese abwägende Entscheidung sei mangels vorzugswürdiger Alternativen rechtlich nicht zu beanstanden, so dass der Verwaltungsgerichtshof die Klage der Ticona GmbH insgesamt habe abweisen müssen.
Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof die Revision zugelassen, über die das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig zu entscheiden hätte.
Aktenzeichen: 12 A 2216/05
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