PRESSEMITTEILUNG Nr. 8/11
zu EuGH, Schlussanträge vom 17.02.2011 - C-120/10.
Nach Ansicht des Generalanwalts Cruz Villalón können die Mitgliedstaaten Maßnahmen ergreifen, um in städtischen Gebieten in der Nähe von Flughäfen das Überschreiten von Grenzwerten für den Lärmpegel am Boden zu ahnden.
Derartige Maßnahmen sind durch den Schutz der Grundrechte, insbesondere derjenigen auf Schutz des Privat- und Familienlebens, der Wohnung und der Umwelt, gerechtfertigt.
Die Richtlinie 2002/301 regelt zur Bekämpfung der Lärmbelästigung an Flughäfen der Union den Erlass und die Auswirkungen sogenannter „Betriebsbeschränkungen“. Hinsichtlich der Voraussetzungen für den Erlass derartiger Betriebsbeschränkungen stellt die Richtlinie auf die Überschreitung bestimmter Geräuschemissionsgrenzwerte an der Quelle (d. h. am Flugzeug selbst) und nicht am Boden ab.
Der Flughafen Brüssel-Zaventem liegt zwar im Gebiet der Region Flandern, doch überqueren die dort betriebenen Flüge auch in sehr geringer Höhe die Region Brüssel-Hauptstadt. Am 27. Mai 1999 erließ der Rat der Region Brüssel-Hauptstadt eine Regelung, die den Lärmhöchstpegel festlegt, der beim Überflug von Flugzeugen über die Region Brüssel-Hauptstadt verursacht werden darf. Diese Regelung legt insbesondere den Lärmpegel fest, ab dem der Überflug eines Flugzeugs die Festsetzung einer Geldbuße rechtfertigt. Die Festsetzung der Geldbuße richtet sich nach verschiedenen Kriterien, darunter u. a. dem Lärmpegel in dB, gemessen am Boden und nicht an der Quelle.
European Air Transport (EAT) ist eine Fluggesellschaft, die zur DHL-Gruppe gehört und Frachtflüge durchführt, die auf dem Flughafen Brüssel-Zaventem starten, landen und zwischenlanden.
Am 19. Oktober 2007 verhängte das Institut Bruxellois de Gestion de l'Environnement, die regionale Einrichtung für die Überprüfung der Einhaltung der Umweltbestimmungen, gegen EAT wegen Verstößen gegen den regionalen Erlass vom 27. Mai 1999 eine Geldbuße in Höhe von 56 113 Euro. EAT wurde vorgeworfen, die nachts von ihren Flugzeugen ausgegangenen Lärmemissionen hätten die dort festgelegten Werte überstiegen. EAT focht diese Entscheidung mit der Begründung an, die regionalen Bestimmungen, gegen die sie verstoßen haben solle, seien rechtswidrig, da als Kriterium für die Lärmmessung der Lärmpegel am Boden statt an der Quelle herangezogen worden sei.
In diesem Zusammenhang hat der belgische Conseil d’État, der über den Rechtsstreit zu entscheiden hat, beschlossen, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen. Das belgische Gericht möchte mit dieser Frage wissen, ob die regionale Brüsseler Vorschrift, die eine Lärmbelästigung durch Flugzeuge, die den Flughafen Brüssel-Zaventem anfliegen, unter Strafe stellt, mit der Richtlinie 2002/30 vereinbar ist.
Generalanwalt Cruz Villalón vertritt in seinen heute vorgelegten Schlussanträgen als Erstes die Ansicht, dass eine „Betriebsbeschränkung“ eine vollständige oder zeitweilige vorab zu treffende objektive Verbotsmaßnahme darstellt, die kategorisch den Zugang eines zivilen Flugzeugs zu einem Flughafen in der Union unterbindet und nicht nur behindert.
1 Richtlinie 2002/30/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. März 2002 über Regeln und Verfahren für lärmbedingte Betriebsbeschränkungen auf Flughäfen der Gemeinschaft (ABl. L 85, S. 40).
Betriebsbeschränkungen sind spezifische im Rahmen der Verkehrspolitik angeordnete Verbote, die neben anderen nationalen Umweltmaßnahmen bestehen.
Der Generalanwalt kommt daher zu dem Ergebnis, dass die regionale belgische Bußgeldbestimmung zur Ahndung von Überschreitungen bestimmter Grenzwerte für den Lärmpegel am Boden in der Nähe von Flughäfen nicht unter die Richtlinie 2002/30 fällt, da sie keine „Betriebsbeschränkung“ darstellt. Die in Rede stehende Brüsseler Regelung untersagt nämlich nicht von vornherein vollständig oder zeitweise den Zugang zum Flughafen Brüssel-Zaventem, sondern verbietet nur die Überschreitung bestimmter Emissionswerte. Insofern hindert die regionale Regelung in keiner Hinsicht ein Flugzeug an der Landung oder am Start auf diesem Flughafen, und die Rechtsfolge der Überschreitung der in der Regelung vorgesehenen Grenzen besteht in einem Bußgeld, nicht aber in einem Verbot. Außerdem ergeht die regionale Bestimmung weder im Rahmen einer Verkehrspolitik, noch wird sie von den auf diesem Gebiet zuständigen Behörden erlassen oder angewandt, denn sie gehört zu den Umweltschutzbestimmungen, die nach der Verfassung in die Zuständigkeit der belgischen Regionen falle.
Als Zweites steht, so der Generalanwalt, die Richtlinie 2002/30, die auf das Kriterium der Messung des Lärmwerts von Luftfahrzeugen an der Quelle Bezug nehme, einer nationalen Maßnahme wie der regionalen Brüsseler Regelung nicht entgegen, die keine Betriebsbeschränkung darstellt und das Kriterium der Messung des Lärmpegels am Boden verwendet. Die Richtlinie 2002/30 hindert die Mitgliedstaaten nicht am Erlass von Vorschriften zum Schutz der Umwelt, die mittelbare Auswirkungen auf die Bestimmungen über die Zivilluftfahrt haben, die durch die Richtlinie harmonisiert werden.
Die Richtlinie 2002/30, auf der einen Seite, hat einen sektoriellen Charakter, soweit sie auf die Anordnung, Regelung und Befreiung von „Betriebsbeschränkungen“ beschränkt ist.
Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, auf der anderen Seite, gewährleistet das Grundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens und der Wohnung und erkennt ausdrücklich ein Recht auf Umweltschutz an. Außerdem hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nicht nur wiederholt entschieden, dass Lärmbelästigungen unter den Umweltschutz fallen, sondern auch anerkannt, dass Fluglärm aktive Schutzmaßnahmen durch den Staat rechtfertigt und gelegentlich erforderlich macht.
Angesichts dessen, dass die Auslegung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte für die Union bindend ist und vom Gerichtshof berücksichtigt werden muss, kommt der Generalanwalt zu dem Ergebnis, dass die Richtlinie 2002/30 den Erlass von Maßnahmen zur Lärmbekämpfung an Flughäfen zulässt, die über die in der genannten Richtlinie ausdrücklich vorgesehenen Maßnahmen hinausgehen. Andernfalls käme es zu einer Art Stillstand des staatlichen Lärmschutzes, und den Staaten wäre jeder Spielraum bei der Umsetzung ihrer Umweltschutz-, Städtebau- und Gesundheitspolitiken genommen.
HINWEIS: Die Schlussanträge des Generalanwalts sind für den Gerichtshof nicht bindend. Aufgabe des Generalanwalts ist es, dem Gerichtshof in völliger Unabhängigkeit einen Entscheidungsvorschlag für die betreffende Rechtssache zu unterbreiten. Die Richter des Gerichtshofs treten nunmehr in die Beratung ein. Das Urteil wird zu einem späteren Zeitpunkt verkündet.
HINWEIS: Im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof entscheidet nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.
Fluglärmschutz EU - Richtlinien Fluglärm Europäische Union