TÜV Pfalz: Absturzrisiko auf Ticona bei 1:10000
Wert "an der Grenze des Akzeptablen" - und nun?
<2004-01-10>
Das lange erwartete "Obergutachten" des TÜV Pfalz zum Risiko eines Flugzeugabsturzes auf das Chemiewerk Ticona ist beim Wirtschaftsministerium eingetroffen. Einige Einzelheiten gelangten, zum Ärger der Landesregierung, schon vor der geplanten offiziellen Bekanntgabe am 15. Januar an die Öffentlichkeit. Das Gutachten kommt zu dem Ergebnis, das beim Anflug auf die geplante Landebahn Nord-West von einem Risikowert von einem Absturz in 10000 Jahren auszugehen ist. In einer ersten Reaktion sprach der Vorsitzende der Störfall-Kommission, Prof. Jochum, von einem Wert, der "erheblich ist und an der Grenze des Akzeptablen liegt". Auch andere Experten halten das Risiko für zu hoch. Die Landesregierung wollte sich inhaltlich erst einmal nicht äußern.
Der TÜV Pfalz hatte im Auftrag des hessischen WIrtschaftsministeriums die vier schon vorliegenden Risikogutachten zum Thema Ticona bezüglich Methodik und Plausibilität überprüft. Diese ebenfalls noch unveröffentlichten Gutachten hatten ganz unterschiedliche Ergebnisse geliefert: während der TÜV Essen zu dem Ergebnis kam, ein Absturz in 600 Jahren auf die Ticona sei wahrscheinlich, geht das von Fraport vorgelegte Gutachten von einer Wahrscheinlichkeit eines Absturzes in 100000 Jahren aus.
Das Obergutachten fand laut Aussage der Frankfurter Rundschau in jedem der anderen Gutachten Ansätze zur Kritik. Der RW-TÜV Essen, der einen Absturz in 600 Jahren prognostiziert, habe "gegebene Möglichkeiten zur differenzierten Berechnung des Absturzrisikos" nicht genutzt und das Risiko deshalb "insgesamt überschätzt". Der Studie der Berliner Gesellschaft für Luftverkehrsforschung fehle es "an Transparenz" hinsichtlich der Risiken der bei Ticona verwendeten Chemikalien. Die britische Flugsicherungsbehörde NATS habe die spezifischen An- und Abflugrouten in Frankfurt zu wenig berücksichtigt. In dem Papier der niederländischen NLR erkannte der TÜV Pfalz "die fehlende Berücksichtigung des lokalen Risikos von Anlagen mit gefährlichen Stoffen" - wie Ticona - als "Schwachpunkt". Für gesichert hält man ein Risiko von 1:10000 - ein Wert, der schön in der Mitte zwischen den anderen liegt. Konsequenzen lassen die Gutachter offen.
Doch sind wir jetzt wirklich schlauer? Die Menschen, die rund um den Flughafen wohnen und arbeiten, werden keineswegs ruhiger schlafen als vorher. Ist sicher, dass die Gutachter vom TÜV Pfalz es besser wissen als die anderen und den "richtigen" Zahlenwert haben? Der Laie wird das wohl auch nach Lektüre der Kilo schweren Gutachten nicht wirklich durchschauen können. Die Risiken beim Anflug von Westen für den ICE-Bahnnof und das geplante Airrail-Center sind noch gar nicht in die Diskussion einbezogen. Und selbst wenn der jetzt diskutierte Risikofaktor rechnerisch stimmen sollte, heißt das noch lange nicht, dass man keine Angst haben müsste. Das eine Ereignis in 10000 Jahren kann nämlich morgen schon stattfinden. Auch am Frankfurter Flughafen hat es in den letzten Jahren kritische Situationen gegeben, die nur ganz knapp gut ausgegangen sind. In München musste erst vor wenigen Tagen eine Maschine der Air Austria wegen eines Triebwerksschadens wenige Kilometer vor dem Flughafen notlanden. Die Sache ging nur deshalb halbwegs glimpflich aus, weil der Pilot es schaffte, das Flugzeug ohne größere Zerstörungen auf einem Feld aufzusetzen. Dieser Unfall hätte auch in Frankfurt passieren können - nur hätte es da wegen der dichten Bebauung rund um den Flughafen keine freie Fläche zum Notlanden gegeben. Die Folgen mag man sich nicht ausmalen.
Und für eine politische Entscheidung ist das Gutachten auch keine Grundlage. Es gibt in Deutschland nämlich keinen gesetzlichen Grenzwert für ein Risiko wie das hier vorliegende. In der Schweiz wäre ein Risiko von 1:10000 tragbar, in den Niederlanden dürfte es nur 1:100 000 sein. Der TÜV Pfalz hat den zulässigen Risikowert der Schweiz zugrunde gelegt. Damit ist das Ticona-Risiko für die Gutachter an der Grenze der Zulässigen. Für die Wohnbevölkerung sollen sie das Risiko für vertretbar halten, für die 300 Angestellten im neuen Verwaltungsgebäude der Ticona dagegen nicht. Offenbar stehen im Gutachten Aussagen der Art, dass durch bestimmte Maßnahmen, die "noch untersucht werden müssten", das Risiko tragbar gemacht werden kann.
Da es keine Grenzwerte gibt, wird die Politik - genauer gesagt die hessische Landesregierung - die Entscheidung treffen müssen. Und wie diese Entscheidung aussehen wird, kann man sich leicht vorstellen. Schließlich will die Landesregierung den Ausbau um jeden Preis. Da schreckt so ein grenzwertiges Risiko nicht. Wahrscheinlich wird es darauf hinauslaufen, dass man - wie im Raumordnungsverfahren vorgeführt - die Risikosituation passend macht, wo sie jetzt nicht passt. Da ein Umbau, dort ein Umzug eines Werksteils und veränderte Arbeitsabläufe bei der Ticona, und schon ist das Risiko rechnerisch ein wenig verkleinert worden und liegt dann formal unter der kritischen Schwelle. Das kostet ein paar Millionen oder auch ein paar Hundert Millionen. Aber ein Grund, die Landesregierung von ihren Ausbauplänen abzubringen, wird es nicht sein.
Helfen könnte da nur ein eindeutiges Votum der Störfall-Kommission, die sich am 16. Januar mit den Gutachten beschäftigen wird und noch im Laufe des Monats ihre Stellungnahme abgeben will. Oder noch mehr Druck der Bürgerinnen und Bürger, damit deren Bedenken von der Politik endlich ernst genommen werden. Wie Michael Wilk es auf der Protestveranstaltung "fünf vor Zwölf" des Bündnisses der Bürgerinitiativen gestern sagte: "Der gesunde Menschenverstand reicht aus, um zu erkennen, dass die direkte Nachbarschaft eines Chemiewerks nicht für den Flughafenausbau geeignet ist. Dafür brauchen wir kein Gutachten."
Der TÜV Pfalz hatte im Auftrag des hessischen WIrtschaftsministeriums die vier schon vorliegenden Risikogutachten zum Thema Ticona bezüglich Methodik und Plausibilität überprüft. Diese ebenfalls noch unveröffentlichten Gutachten hatten ganz unterschiedliche Ergebnisse geliefert: während der TÜV Essen zu dem Ergebnis kam, ein Absturz in 600 Jahren auf die Ticona sei wahrscheinlich, geht das von Fraport vorgelegte Gutachten von einer Wahrscheinlichkeit eines Absturzes in 100000 Jahren aus.
Das Obergutachten fand laut Aussage der Frankfurter Rundschau in jedem der anderen Gutachten Ansätze zur Kritik. Der RW-TÜV Essen, der einen Absturz in 600 Jahren prognostiziert, habe "gegebene Möglichkeiten zur differenzierten Berechnung des Absturzrisikos" nicht genutzt und das Risiko deshalb "insgesamt überschätzt". Der Studie der Berliner Gesellschaft für Luftverkehrsforschung fehle es "an Transparenz" hinsichtlich der Risiken der bei Ticona verwendeten Chemikalien. Die britische Flugsicherungsbehörde NATS habe die spezifischen An- und Abflugrouten in Frankfurt zu wenig berücksichtigt. In dem Papier der niederländischen NLR erkannte der TÜV Pfalz "die fehlende Berücksichtigung des lokalen Risikos von Anlagen mit gefährlichen Stoffen" - wie Ticona - als "Schwachpunkt". Für gesichert hält man ein Risiko von 1:10000 - ein Wert, der schön in der Mitte zwischen den anderen liegt. Konsequenzen lassen die Gutachter offen.
Doch sind wir jetzt wirklich schlauer? Die Menschen, die rund um den Flughafen wohnen und arbeiten, werden keineswegs ruhiger schlafen als vorher. Ist sicher, dass die Gutachter vom TÜV Pfalz es besser wissen als die anderen und den "richtigen" Zahlenwert haben? Der Laie wird das wohl auch nach Lektüre der Kilo schweren Gutachten nicht wirklich durchschauen können. Die Risiken beim Anflug von Westen für den ICE-Bahnnof und das geplante Airrail-Center sind noch gar nicht in die Diskussion einbezogen. Und selbst wenn der jetzt diskutierte Risikofaktor rechnerisch stimmen sollte, heißt das noch lange nicht, dass man keine Angst haben müsste. Das eine Ereignis in 10000 Jahren kann nämlich morgen schon stattfinden. Auch am Frankfurter Flughafen hat es in den letzten Jahren kritische Situationen gegeben, die nur ganz knapp gut ausgegangen sind. In München musste erst vor wenigen Tagen eine Maschine der Air Austria wegen eines Triebwerksschadens wenige Kilometer vor dem Flughafen notlanden. Die Sache ging nur deshalb halbwegs glimpflich aus, weil der Pilot es schaffte, das Flugzeug ohne größere Zerstörungen auf einem Feld aufzusetzen. Dieser Unfall hätte auch in Frankfurt passieren können - nur hätte es da wegen der dichten Bebauung rund um den Flughafen keine freie Fläche zum Notlanden gegeben. Die Folgen mag man sich nicht ausmalen.
Und für eine politische Entscheidung ist das Gutachten auch keine Grundlage. Es gibt in Deutschland nämlich keinen gesetzlichen Grenzwert für ein Risiko wie das hier vorliegende. In der Schweiz wäre ein Risiko von 1:10000 tragbar, in den Niederlanden dürfte es nur 1:100 000 sein. Der TÜV Pfalz hat den zulässigen Risikowert der Schweiz zugrunde gelegt. Damit ist das Ticona-Risiko für die Gutachter an der Grenze der Zulässigen. Für die Wohnbevölkerung sollen sie das Risiko für vertretbar halten, für die 300 Angestellten im neuen Verwaltungsgebäude der Ticona dagegen nicht. Offenbar stehen im Gutachten Aussagen der Art, dass durch bestimmte Maßnahmen, die "noch untersucht werden müssten", das Risiko tragbar gemacht werden kann.
Da es keine Grenzwerte gibt, wird die Politik - genauer gesagt die hessische Landesregierung - die Entscheidung treffen müssen. Und wie diese Entscheidung aussehen wird, kann man sich leicht vorstellen. Schließlich will die Landesregierung den Ausbau um jeden Preis. Da schreckt so ein grenzwertiges Risiko nicht. Wahrscheinlich wird es darauf hinauslaufen, dass man - wie im Raumordnungsverfahren vorgeführt - die Risikosituation passend macht, wo sie jetzt nicht passt. Da ein Umbau, dort ein Umzug eines Werksteils und veränderte Arbeitsabläufe bei der Ticona, und schon ist das Risiko rechnerisch ein wenig verkleinert worden und liegt dann formal unter der kritischen Schwelle. Das kostet ein paar Millionen oder auch ein paar Hundert Millionen. Aber ein Grund, die Landesregierung von ihren Ausbauplänen abzubringen, wird es nicht sein.
Helfen könnte da nur ein eindeutiges Votum der Störfall-Kommission, die sich am 16. Januar mit den Gutachten beschäftigen wird und noch im Laufe des Monats ihre Stellungnahme abgeben will. Oder noch mehr Druck der Bürgerinnen und Bürger, damit deren Bedenken von der Politik endlich ernst genommen werden. Wie Michael Wilk es auf der Protestveranstaltung "fünf vor Zwölf" des Bündnisses der Bürgerinitiativen gestern sagte: "Der gesunde Menschenverstand reicht aus, um zu erkennen, dass die direkte Nachbarschaft eines Chemiewerks nicht für den Flughafenausbau geeignet ist. Dafür brauchen wir kein Gutachten."
Themen hierzuAssciated topics:
Gefahren durch Flughafenausbau FRA Risiko Absturz-Gefahr Ticona Gutachten zum Ausbau d. Frankfurter Flughafens Hessische Landesregierung
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