Störfall-Kommission kritisiert Fraport-Gutachten zum Ticona-Risiko
Welcher Gutachter hat nun recht?
<2003-09-30>
Die Absturzgefahr über dem Chemiewerk Ticona beim Betrieb der geplanten Nordwestbahn beschäftigt zur Zeit die Störfall-Kommission. Nach Informationen der Frankfurter Rundschau sind die von Fraport vorgelegten Risiko-Gutachten in der Kommission in die Kritik geraten.
So hat Fraport im Sommer eine Studie der britischen "National Air Traffic Services" (NATS) präsentiert, in dem die britische Flugsicherung zu dem Ergebnis kommt, für das Werksgelände der Ticona bestehe kein unakzeptables Risiko, die Firma könne sogar an dem Standort noch weiter wachsen. Doch Mitgliedern der Störfall-Kommission ist aufgefallen, dass die Studie nur das Unfallrisiko von Fluggesellschaften der ersten Welt untersucht, die in der Regel moderne, gut gewartete Flugzeuge und erfahrene Piloten haben. Schon etwas klappriges Fluggerät aus Entwicklungsländern wird dagegen ausgeblendet, obwohl solche Flugzeuge Frankfurt oft anfliegen.
In der zweiten Sitzung der Störfall-Kommission ist auch die Berliner GfL in die Schußlinie geraten: die GfL kommt in mehreren Gutachten jedesmal zu anderen Ergebnissen. In einer Studie für das Raumordnungsverfahren vor eineinhalb Jahren kam GfL zu dem Schluss, für die Einflugschneise der Nordwestbahn müsse statistisch gesehen im Bereich der Ticona mit 2,1 Abstürzen in 1000 Jahren gerechnet werden. In einer Auftragsarbeit für Fraport vom März 2003 wurde das Risiko dann mit 3,6 Abstürzen in 10 000 Jahren angegeben. Im neuesten Gutachten für Fraport, das wohl für das Planfeststellungsverfahren vorgesehen ist und der Störfall-Kommission vorliegt, ist plötzlich nur noch von einem Unfall in 100 000 Jahren die Rede.
Kritisiert wurde in der Sitzung auch, dass die GfL ihre Prognose auf der Basis von nur 11 Unglücksfällen berechnet hat. Die Berliner Gutachter analysieren nur solche Abstürze, die an Flughäfen passiert sind, die geografisch, anhand des Verkehrsaufkommens und der Art der Flugzeuge mit Frankfurt vergleichbar sind. Ein Sitzungsteilnehmer sagte dazu zur FR: "Wie kann man aufgrund von ganzen elf Unfällen eine Risiko-Aussage für die nächsten 100 000 Jahren treffen?" Wie er kommt auch ein anderer Sitzungsteilnehmer zu dem Schluss: "Die GfL-Gutachter haben den Eindruck hinterlassen, als würden sie alle Möglichkeiten zugunsten der Fraport weitestgehend ausloten."
Der Vorsitzende der Störfall-Kommission, Professor Christian Jochum, will zur Zeit keine detaillierte Stellungnahme abgeben, weil die Sitzungen vertraulich sind. Doch auch er räumte ein, wegen der stark voneinander abweichenden Wahrscheinlichkeitsberechnungen habe die Frage höchste Priorität, wie "statistisch belastbar die verschiedenen Gutachten" seien. Der Rheinisch-Westfälische TÜV in Essen hatte in einem Gutachten für das hessische Wirtschaftsministerium einen Unfall in 600 Jahren vorausgesagt, ein extrem hoher Wert.
Aufschluss erhofft man sich jetzt von einem Gutachten des TÜV Pfalz, der von der Landesregierung mit einer "Qualitätssicherung" beauftragt wurde, das Ergebnis wird bis Mitte Oktober erwartet. Die Störfall-Kommission könnte dann am Ende des Jahres ein Votum abgeben.
Die betroffenen Bürger beruhigen diese Vorgänge nicht gerade. Das Risiko, dass ein Flugzeug auf die Ticona stürzt, liegt nach Meinung der Gutachter zwischen einmal in 600 und einmal in 100 000 Jahren – man könnte auch gleich würfeln. Die Bandbreite der Aussagen lässt darauf schließen, dass entweder die Experten selbst nicht genau wissen, wie die Wahrscheinlichkeit richtig berechnet wird. Oder aber, dass die Ergebnisse der Gutachten sehr stark davon abhängen, was der jeweilige Auftraggeber damit erreichen will. Oder beides.
Damit es niemand merkt, hält die Landesregierung die vorliegenden Gutachten nach wie vor geheim. Nur über einige Zeitungen, die gute Kontakte haben, kommt ab und zu ein Bruchstück ans Licht. Offenbar hofft das Wirtschaftsministerium, das der jetzt mit einer Art Obergutachten beauftragte TÜV Pfalz das für die Ausbaupläne tödliche Gutachten des TÜV Essen widerlegt. Doch wer sagt eigentlich, dass die jetzt beauftragten Experten kompetenter sind als ihre Vorgänger und ihr Wort mehr Gewicht hat? Das sich alle Gutachter auf einen Wert einigen, ist eher unwahrscheinlich – besonders wenn der Wert über die Ausbaupläne entscheidet. Die Auseinandersetzung wird wohl vor den Gerichten ausgetragen werden.
Eigentlich kann bei diesem Problem die Konsequenz nur heißen: man geht dem unkalkulierbaren Risiko ganz aus dem Wege - entweder Chemiewerk oder Einflugschneise. Bereits die jetzigen Überflüge über die Ticona bedeuten eine Gefahr. Die ließe sich entschärfen, indem man die (Start-)Flugroute etwas verlegt. Bei Realisierung der Landebahn Nordwest würde jedoch eine weltweit einmalige Situation entstehen: nirgendwo sonst würden Flugzeuge ein Chemiewerk so dicht überfliegen.
Auf dieses Experiment kann die Region verzichten.
So hat Fraport im Sommer eine Studie der britischen "National Air Traffic Services" (NATS) präsentiert, in dem die britische Flugsicherung zu dem Ergebnis kommt, für das Werksgelände der Ticona bestehe kein unakzeptables Risiko, die Firma könne sogar an dem Standort noch weiter wachsen. Doch Mitgliedern der Störfall-Kommission ist aufgefallen, dass die Studie nur das Unfallrisiko von Fluggesellschaften der ersten Welt untersucht, die in der Regel moderne, gut gewartete Flugzeuge und erfahrene Piloten haben. Schon etwas klappriges Fluggerät aus Entwicklungsländern wird dagegen ausgeblendet, obwohl solche Flugzeuge Frankfurt oft anfliegen.
In der zweiten Sitzung der Störfall-Kommission ist auch die Berliner GfL in die Schußlinie geraten: die GfL kommt in mehreren Gutachten jedesmal zu anderen Ergebnissen. In einer Studie für das Raumordnungsverfahren vor eineinhalb Jahren kam GfL zu dem Schluss, für die Einflugschneise der Nordwestbahn müsse statistisch gesehen im Bereich der Ticona mit 2,1 Abstürzen in 1000 Jahren gerechnet werden. In einer Auftragsarbeit für Fraport vom März 2003 wurde das Risiko dann mit 3,6 Abstürzen in 10 000 Jahren angegeben. Im neuesten Gutachten für Fraport, das wohl für das Planfeststellungsverfahren vorgesehen ist und der Störfall-Kommission vorliegt, ist plötzlich nur noch von einem Unfall in 100 000 Jahren die Rede.
Kritisiert wurde in der Sitzung auch, dass die GfL ihre Prognose auf der Basis von nur 11 Unglücksfällen berechnet hat. Die Berliner Gutachter analysieren nur solche Abstürze, die an Flughäfen passiert sind, die geografisch, anhand des Verkehrsaufkommens und der Art der Flugzeuge mit Frankfurt vergleichbar sind. Ein Sitzungsteilnehmer sagte dazu zur FR: "Wie kann man aufgrund von ganzen elf Unfällen eine Risiko-Aussage für die nächsten 100 000 Jahren treffen?" Wie er kommt auch ein anderer Sitzungsteilnehmer zu dem Schluss: "Die GfL-Gutachter haben den Eindruck hinterlassen, als würden sie alle Möglichkeiten zugunsten der Fraport weitestgehend ausloten."
Der Vorsitzende der Störfall-Kommission, Professor Christian Jochum, will zur Zeit keine detaillierte Stellungnahme abgeben, weil die Sitzungen vertraulich sind. Doch auch er räumte ein, wegen der stark voneinander abweichenden Wahrscheinlichkeitsberechnungen habe die Frage höchste Priorität, wie "statistisch belastbar die verschiedenen Gutachten" seien. Der Rheinisch-Westfälische TÜV in Essen hatte in einem Gutachten für das hessische Wirtschaftsministerium einen Unfall in 600 Jahren vorausgesagt, ein extrem hoher Wert.
Aufschluss erhofft man sich jetzt von einem Gutachten des TÜV Pfalz, der von der Landesregierung mit einer "Qualitätssicherung" beauftragt wurde, das Ergebnis wird bis Mitte Oktober erwartet. Die Störfall-Kommission könnte dann am Ende des Jahres ein Votum abgeben.
Die betroffenen Bürger beruhigen diese Vorgänge nicht gerade. Das Risiko, dass ein Flugzeug auf die Ticona stürzt, liegt nach Meinung der Gutachter zwischen einmal in 600 und einmal in 100 000 Jahren – man könnte auch gleich würfeln. Die Bandbreite der Aussagen lässt darauf schließen, dass entweder die Experten selbst nicht genau wissen, wie die Wahrscheinlichkeit richtig berechnet wird. Oder aber, dass die Ergebnisse der Gutachten sehr stark davon abhängen, was der jeweilige Auftraggeber damit erreichen will. Oder beides.
Damit es niemand merkt, hält die Landesregierung die vorliegenden Gutachten nach wie vor geheim. Nur über einige Zeitungen, die gute Kontakte haben, kommt ab und zu ein Bruchstück ans Licht. Offenbar hofft das Wirtschaftsministerium, das der jetzt mit einer Art Obergutachten beauftragte TÜV Pfalz das für die Ausbaupläne tödliche Gutachten des TÜV Essen widerlegt. Doch wer sagt eigentlich, dass die jetzt beauftragten Experten kompetenter sind als ihre Vorgänger und ihr Wort mehr Gewicht hat? Das sich alle Gutachter auf einen Wert einigen, ist eher unwahrscheinlich – besonders wenn der Wert über die Ausbaupläne entscheidet. Die Auseinandersetzung wird wohl vor den Gerichten ausgetragen werden.
Eigentlich kann bei diesem Problem die Konsequenz nur heißen: man geht dem unkalkulierbaren Risiko ganz aus dem Wege - entweder Chemiewerk oder Einflugschneise. Bereits die jetzigen Überflüge über die Ticona bedeuten eine Gefahr. Die ließe sich entschärfen, indem man die (Start-)Flugroute etwas verlegt. Bei Realisierung der Landebahn Nordwest würde jedoch eine weltweit einmalige Situation entstehen: nirgendwo sonst würden Flugzeuge ein Chemiewerk so dicht überfliegen.
Auf dieses Experiment kann die Region verzichten.
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Risiko Gutachten zum Ausbau d. Frankfurter Flughafens Störfall-Kommission (SFK) Ticona Absturz-Gefahr Landebahn Nordwest Fraport AG
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