Bei den Untersuchungen zum Risiko der geplanten Landebahn Nordwest hatten die Planer der Fraport das Chemiewerk Ticona mitten in der Einflugschneise einfach übersehen. Das Regierungspräsidium hatte deshalb vertiefende Untersuchungen gefordert, und das hessische Wirtschafts- und Verkehrsministerium hatte entsprechende Gutachten in Auftrag gegeben. Nun sind die Ergebnisse da - und sie gefallen dem Ministerium gar nicht.
Nach Berichten der Frankfurter Rundschau kommt der TÜV Essen in seinem Gutachten zum Risiko eines möglichen Flugzeugabsturzes über dem Gelände des Chemiewerks Ticona zu dem Schluss, dass "größenordnungsmäßig von einem Ereignis in 600 Jahren" ausgegangen werden muss. Für den Fall eines Absturzes werden von den Gutachtern Hunderte von Toten und ein Milliarden-Schaden vorausgesagt. Der Schaden bleibe zwar wahrscheinlich auf das Werksgelände beschränkt, darüber hinaus seien "auch Domino-Effekte außerhalb des Werksgeländes mit dann unkontrollierbarer Schadenausweitung nicht auszuschließen." So könnten zum Beispiel auf der nahen Autobahn A3 viele Hundert Autofahrer zu Schaden kommen.
Ein Absturz in 600 Jahren hört sich auf den ersten Blick harmlos an, ist aber nach der Einschätzung von Fachleuten sehr groß - zu groß. Professor Hans-Geog Schecker vom Fachbereich Chemietechnik der Universität Dortmund und Professor Jörg Steinbach, Vizepräsident der TU Berlin und Inhaber des Lehrstuhls für Anlagen und Sicherheitstechnik, sprechen übereinstimmend von einem "hoch bis sehr hohen" Risiko. Steinbach hält den Neubau einer Chemieanlage an dieser Stelle deshalb nicht für genehmigungsfähig. "Entweder eine neue Landebahn, oder Ticona. Beides zusammen geht nicht".
Fraport und das Wiesbadener Wirtschafts- und Verkehrsministeriums sehen das anders. Fraport-Ausbaumanager Schölch hält beide Vorhaben, Landebahn und Ticona, für kompatibel und behauptet, das TÜV-Gutachten sei erst eine Vorstufe und noch gar nicht fertig. Fraport hat beim Ministerium ein "Gegengutachten" der Berliner Gesellschaft für Luftverkehrsforschung (GfL) vorgelegt, nach dem nur alle 2778 Jahre ein Flugzeug auf das Ticona-Gelände abstürzen soll. Sehr merkwürdig: in ihrem Gutachten zum Raumordnungsverfahren hatte die GfL an der entsprechenden Stelle der Einflugschneise noch ein Risiko von "einem Ereignis in 476 Jahren" prognostiziert. Der Geschäftsführer der GfL begründete die Änderung in einem Gespräch mit der Frankfurter Rundschau mit "einem anderen Focus und einer vertiefenden Betrachtung der Problematik" und meinte ebenfalls, das TÜV-Gutachten sei noch nicht fertig. Muß man die Poblematik nur lange genug vertieft betrachten, damit ein für Fraport akzeptables Ergebnis heraus kommt?
Angeblich hat das Wiesbadener Ministerium die Gutachter aufgefordert, sich zusammen zu setzen und zu einem abgestimmten Ergebnis zu kommen, was beim TÜV Essen nicht auf Begeisterung stößt: "Wir liefern im Normalfall keine halbfertigen Sachen. Dem Ministerium liegt ein fertiges Gutachten vor". Die Behandlung der Gutachten durch das Ministerium sieht wieder einmal nach der bekannten "Methode Posch" aus. Wenn Gesetze oder Gutachten nicht in den Kram passen, werden sie sie entweder ignoriert oder so lange gedreht und gewendet, bis sie den Plänen des Ministeriums nicht mehr im Wege stehen. Die Gutachten müssen jetzt alle öffentlich auf den Tisch - in der Originalversion.
Einen großen Schreck hat die Nachricht offenbar den Sankt-Florians-Politikern in Frankfurt eingejagt. Wenn wegen der Ticona die Landebahn Nordwest nicht gebaut werden könnte, würde die Bahn "Nordost" wieder aktuell, die erheblich mehr Lärmbelastung im Frankfurter Stadtgebiet bringen würde. Krach in der Koalition wäre programmiert. Die CDU und OB Petra Roth hätten zwar eine Südbahn bevorzugt, waren jedoch auch bereit, sich mit der Nordwest-Variante anzufreunden, weil für sie höchste Priorität hat, dass der Ausbau überhaupt stattfindet. Wenn jedoch nur noch die Variante auf Frankfurter Stadtgebiet übrig bleiben sollte, "müssen wir uns die Details dann ganz genau ansehen", so der Sprecher von Roth. Für Klaus Oesterling, verkehrspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, ist die Lage dagegen eindeutig: "Dann gehen wir auf die Barrikaden." Das verspricht lustig zu werden.
Die Störfall-Kommission des Bundestages beschäftigt sich auf Antrag der Ticona und der Stadt Hattersheim ebenfalls mit dem Problem. Eine Entscheidung steht noch aus.
Ticona Absturz-Gefahr Störfall-Kommission (SFK) Risiko Landebahn Nordwest Gefahren durch Flughafenausbau FRA Posch Fraport AG